Die Industrialisierung war auf dem Vormarsch in Europa und die Energieintensive Schwerindustrie war auf der Suche nach rentablen Produktionsmöglichkeiten. Wasser wurde zum entscheidenden Rohstoff für den Aufbau des modernen Norwegischen Wohlfahrtsstaates. Hierbei war Tyssedal eines der wegweisenden Orte in der Entwicklung der Wasserkraft.
Innerhalb nur weniger Jahre entwickelte sich Tyssedal von einem Landwirtschaftlichen Bezirk zu einer modernen Industriegesellschaft mit Wohnsiedlungen, Schulen und sozialen Diensten. Die Bauherren beafutragten führenden Architekten der Zeit um alles von Kaianlagen, Fabriken, elektrochemischen Öfen zu Gewächshäusern, und Scheunen für das Vieh zu errichten. Die neue Gesellschaft hatte auch mehrere Hebammen.
Die Menschen in Tyssedal und Odda lebten im Wohlstand verglichen mit anderen Orten. Foto: Kraftmuseet Archiv
Aber schon viele Jahrzehnte davor kamen ausländische Reisende nach Odda, Tyssedal und Skjeggedal. Sie wollten Land und Leute kennenlernen und die atemberaubende Natur entdecken.
Friedrich Engels kam hierhin, aber er war weder der erste noch der prominenteste Tourist in Odda.
Der deutsche Kaiser Wilhelm II besuchte Hardanger jedes Jahr um die Jahrhundertwende, und der Titel «Kaiser-Lotse» gehörte zu den ruhmreichsten Titeln des Gebietes. Ein Foto noch aus dem Jahre 1906 zeigt, wie Sam Eyde den interessierten Kaiser Wilhelm über die Ausbaupläne informiert, die dazu führen sollten, daß dem exclusiven Tourismus ein Ende bereitet wurde.
Kaiser Wilhelm II in Tyssedal zusammen mit Gründer und Generaldirektor von Tyssefaldene, Sam Eyde.
Foto: Kraftmuseet Archiv
Der Tourismus blühte damals schon seit mehr als fünfzig Jahren, und Odda hatte ebenso lange Hotels gehabt. Um die Jahrhundertwende konnten die Reisenden hier sogar unter elf Touristenhotels wählen. Eines dieser Hotels war mit seinen 110 Gästezimmern das größte Hotel Norwegens und das zweitgrößte Holzgebäude des ganzen Landes.
Hotel Hardanger wurde nach einem Feuer 1895 im Jahr darauf noch grösser und imposanter wieder aufgebaut.
Foto: Kraftmuseet Archiv
Im Lichte der darauf folgenden Industrialisierung verloren diese Dimensionen beträchlich an Größe. Der Bau der Karbid- und Zyanamidfabrik wurde zu einer der größten Industrieanlagen dieser Art auf der Welt. Die Konzession wurde am 25. Januar 1908 erteilt, und vor dem Ende des Jahres wurden sowohl die Karbid- als auch die Zyanamidabteilung in Betrieb genommen. Diese Bautätigkeit führt dazu, daß die Bevölkerung in Tyssedal zunimmt. In wenigen Jahren wächst sie von 30 Personen auf 1000 an.
Die neuen "Oddafabriken" 1907. Foto: Knud Knudsen Kraftmuseet Archiv
"Fast jedes Dorf und jede Stadt des Landes hatten mit sogenannten «Emigranten« beigetragen, und die daraus entstandene babylonische Verwirrung war nicht nur philologischer Art», sagt die Festschrift zum 75sten Jubiläum des Odda Arbeitervereins diplomatisch. Weiter steht:
«Alle sind aus der jeweiligen Heimat mit ihren mehr oder weniger ausgeprägten Eigenheiten in bezug auf Sitten, Gewohnheiten und Denkweise hierher gekommen, und der alte Ort Odda war zu klein, um alles Neue und Fremde aufzunehmen und es in die Bauernkultur des Ortes einzuverleiben. Odda wird zu einer Siedlergesellschaft und wurde lange Jahre von unruhigen sozialen Verhältnissen geprägt. Politisch ist Odda schon von Anfang an eine rote Bastion, von den radikalen Strömungen in der Arbeiterbewegung stark geprägt. Sozialisten und Kommunisten sind politisch die führenden Gruppen, aber der Bauarbeiter hat einen großen Einfluß auf das soziale Leben und den Lebensstil. Die rabiaten Zustände in Odda waren lange weit außerhalb Hardangers bekannt. Hier findet man Abenteurer und Landstreicher, Straßenbauer (Rallar) und Bauernjungs, und auch solche, die gerne etwas von jedem sein möchten. Sämtliche sprachen Schwedisch, auch wenn sie einfach Bauernjungs aus Ullensvang (am Hardangerfjord) oder Fischer aus den nördlichen Gebieten Norwegens waren, ob sie in den Fabriken «Zinken», «Nitriden», «Karbiden» oder «Cyanamiden» arbeiteten.
In knapp anderthalb Jahren waren die Oddafabriken mitsamt Wasserkraftanlage und Stromlinien aufgebaut.
Foto: Kraftmuseet Archiv
In einer klassischen Sammlung von Arbeitererinnerungen aus der Bauzeit schreibt Edvard Bull in der Erzählung «Ein ehrlicher Abenteurer» von einem Syndikalisten, der sich nicht lange in Odda aufhält.
Er hat seine Arbeit an der Bergenbahn gerade abgeschlossen und tut sich mit vier anderen zusammen, die sich auch in Richtung Odda aufmachen. Es wird gesagt, daß man dort gute Arbeit und guten Verdienst finden kann. Die fünf bekommen sofort Arbeit im «Zyanamid» und Unterkunft durch die Fabrik, wobei das vom Lohn abgezogen wurde. Der Syndikalist wird in der Kollermühle beschäftigt, in der schlimmsten Abteilung der ganzen Zyanamid-Fabrik. Mit Staubmasken vor Nase und Mund, mit Lederhandschuhen, mit Watte und Mullbinden um den Hals und den Handgelenken schützt man sich so gut es geht. Doch, das hilft alles wenig. Die Haut wird schorfig und wund vom überall eindringenden Staub. Der Betrieb bietet Darlehen für den Umzug der Familie und ein neues Zuhause an. Doch die Arbeit ist zu abschreckend. Dem Syndikalisten reicht es. Das ist keine Arbeit auf die Dauer. Die Produktion rollt rund um die Uhr, und das bedeutet achtstündige Schichten, wochentags und sonntags, Weihnachten wie Ostern und Pfingsten. Das bedeutet sieben Schichten pro Woche, mit einer hundertprozentigen Lohnzulage für die Feiertage. Der Syndikalist und viele andere kündigen, so daß sie am dritten Pfingsttag aufhören und somit zwei extra Feiertage mit doppeltem Lohn bekommen. Obwohl die Angestellten zwar unter ganz anderen materiellen Bedingungen leben, werden auch sie, auf der anderen Seite der Klassentrennung, von Anforderungen gesteuert, die bis dahin unerprobt, dreckig, gefährlich, ohne jegliche Sicherheitsvorschriften und ohne erwähnenswerte Regulierungen der Arbeitszeit sind. Auch die Angestellten sind industrielle Pioniere, und sie sind Zugezogene. Sie sind hierher gekommen, haben ihre prächtigen Villen bezogen, sich darin sozial abgesondert und versuchten somit eine kleine, abgeschlossene Welt in den verschiedenen Clubs und französischen Kulturallianzen aufzubauen. Sie haben einige Jahre hier verbracht, ohne Wurzeln schlagen zu können, und sind dann wieder verschwunden, ohne eigentliche Spuren zu hinterlassen. Die Arbeiter sind geblieben.»
KJARTAN FLØGSTADin seinem Buch: "PORTRAIT EINES MAGISCHEN LEBENS, CLAES GILL" (bekannter Schauspieler aus Odda).
Frauen und Kinder in Tyssedal, Arbeitersiedlungen und Baracken im Hintergrund. Foto: Kraftmuseet Archiv